Highs & Lows VS. langweilige Konstanz
Was ist guter Fortschritt im Training und was hat das mit Buddhismus zu tun?
Fortschritt im Training: Warum stete Entwicklung mehr zählt als Geschwindigkeit
Wenn du in einem Auto sitzt, spürst du nicht, ob du gerade 30 km/h oder 60 km/h fährst – aber du spürst sehr wohl die Beschleunigung von 30 km/h auf 60 km/h.
Genau das ist das Problem mit Progression im Training.
Solange wir Veränderung spüren, sind wir mit unserem Training zufrieden – außer, diese Veränderung ist negativ. Doch selbst wenn unser Training gleichmäßig gut läuft, wir Fortschritte machen und keine Probleme haben, fragen wir uns oft: Könnte es nicht schneller gehen?
Woher weißt du, dass es nicht schneller gehen könnte?
Verhandlungen, Buddhismus und Anchoring im Training
Was ist Anchoring? Anchoring, das Verankern, ist ein Begriff aus der Kognitionspsychologie. Er beschreibt, wie Informationen unsere Entscheidungen beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist das „Ridiculous First Offer“ beim Feilschen. Hier startet man mit einem Angebot, das weit über dem eigentlichen Ziel liegt, um einen Anker zu setzen und sich in Richtung des gewünschten Ergebnisses zu verhandeln.
Genau solche Anker setzen wir auch in uns selbst, wenn es um die Zufriedenheit mit unserem Training geht. Wir vergleichen uns mit anderen – etwa mit den Fortschritten, die auf Instagram gepostet werden – oder mit unseren eigenen Erwartungen: Früher ging der Fortschritt doch schneller.
Wie können wir bessere Anker setzen, um realistisch zu bleiben und mit unserem Training zufrieden zu sein? Denn Zufriedenheit hat überraschend großen Einfluss auf den Fortschritt.
Fortschritt im Krafttraining: Was ist realistisch?
Wie immer gilt: Es kommt darauf an. Faktoren wie genetisches Talent, Ernährung, Erholung, Stressmanagement und natürlich die Trainingsplanung beeinflussen die Progression.
Studien und Zahlen
Natürlich habe ich ein wenig recherchiert und Zahlen gefunden, aber ich halte es für falsch diese ohne Kontext zu geben. Wenn man sich mit Hypertrophie beschäftigt findet man meist eine Rate von 1,8 - 3% der Lean Body Mass in Studien mit einer Dauer von 6 bis 12 Wochen (wie z.B. hier: doi: 10.3389/fnut.2018.00084 und hier: doi:10.1152/japplphysiol.00154.2016 ) - ABER ich habe auch nicht lange weiter gesucht.
WARUM?
Es reicht als Rahmen und wir müssen uns auch in diesem Kontext davon verabschieden, einen konkreten Wert zu ermitteln, welcher der Goldstandard unserer Erwartungshaltung wird. Anekdotisch ist hervorzuheben, dass mir Dietmar Wolf bei unserer Zusammenarbeit in der Nationalmannschaft im Kraftdreikampf von einer Leistungssteigerung von maximal 2,5% der Totalleistung (Kniebeuge, Bankdrücken, Kreuzeheben zusammen) pro Jahr bei elite Liftern erzählt hat. Seine Aussage beruht dabei auf Trainingsdaten aus 10 Jahren exakter Trainingsauswertung. Eine höhere Steigerung wäre hierbei manchmal möglich gewesen aber hätte immer eine höhere Verlezungsrate in der Folge nach sich gezogen.
Was lernen wir daraus?
Das ist ein wunderbares Beispiel warum ich mich nicht als evidenzbasierten Coach im klassischen Sinne bezeichenen würde. Wissenschaft hat einen bestimmten Zweck (vielleicht ein gutes Thema für einen weiteren Artikel), aber wenn es um Themen wir Progressraten geht, dann gibt es zu vieles was diese beeinflusst - und somit können Aussagen hierzu viel zu oft zu mehr Frust führen als Motivation..
Ein buddhistischer Ansatz fürs Training
Buddhisten setzen diesen Anker in ihrer Betrachtungsweise des Lebens:
Das Leben ist konstantes Leiden.
Diese Betrachtung erlaubt es, alle positiven Erlebnisse als solche wahr zu nehmen und dabei nicht von negativen Erlebnissen überrascht zu werden. Ein großartiger Tag ist nur dann gegeben, wenn mir nichts negatives widerfährt ist eine Erwartungshaltung, ein Anker für unseren Maßstab, der zu sehr vielen schlechten Tagen führt. Ich weiß das alles klingt jetzt wie aus einem Standard Selbsthilfebuch abgeschrieben, denn so einfach ist das Ganze nicht. Aber es hat eine sehr einfache auf Training übertragbare Konsequenz.
Langsame Progression akzeptieren: Fortschritte sind selten konstant, aber ein positiver Trend über das Jahr ist entscheidend.
Phasen des Stillstands erwarten: Anpassungen brauchen oft Zeit. Fortschritt zeigt sich nicht immer von Woche zu Woche.
Progression auf mehreren Ebenen betrachten: Bewerte nicht nur einzelne Einheiten oder Wochen, sondern ganze Trainingsblöcke.
Der „Plate Plan“: Kleine Schritte zählen
Louie Simmons hat immer vom “Plate Plan” von George Halbert gesprochen (Weltrekordhalter im Bankdrücken), da dieser immer mit einer kleinen Scheibe im Gym unterwegs war und versucht hat kontinuierlich NUR in kleinem Schritt zu steigern - 2,5kg insgesamt mehr auf der Hantel, wenn 200kg aufliegen ist ein kleiner Schritt. Eine Wiederholung mehr (nicht eine pro Satz, nur eine) oder die kleinste Steigerung der Last, das sind Empfehlungen die wir von allen hören, die lange trainieren, um ihre Leistung zu steigern. Da ist schon viel dran.
Sei geduldig: Stress, Erholung und andere Faktoren beeinflussen das Tempo der Progression. Wenn du ruhig bleibst und dein Bestes gibst, wird sich langfristig Erfolg einstellen.
Fortschritt ist keine Gerade
Natürlich wünschen wir uns eine lineare Entwicklung. Doch der Fortschritt ist oft ein krakeliges Auf und Ab. Plane deine Trainingsblöcke so, dass sie diesen Schwankungen Rechnung tragen. Starte nicht jeden Block an einem Höhepunkt, sondern passe dein Training an.
Langfristige Perspektive
Bewerte dein Training nicht anhand einzelner Einheiten oder Wochen. Ein objektiver Blick auf mehrere Wochen oder Monate hilft, Fortschritt besser einzuschätzen und Anpassungen vorzunehmen.
Was, wenn es super läuft?
Freu dich über gute Phasen, aber sei dir bewusst, dass sie nicht selbstverständlich sind. Vermeide die Versuchung, in diesen Phasen noch mehr zu trainieren, um den Fortschritt zu beschleunigen. Konstante Fortschritte sind das Ziel, nicht maximale Geschwindigkeit.
Fazit: Setze den Fokus darauf, den Fortschritt konstant zu halten. Du spürst konstante Geschwindigkeit vielleicht nicht – aber wenn du aus dem Fenster schaust, wird sie dir auffallen. Geduld und Realismus sind der Schlüssel zu langfristigem Erfolg.
Wenn du Training als Bereicherung für dein Leben betrachtest als etwas, das dir Kraft und Freude schenkt, dann ist Fortschritt ein wertvoller Bonus, dem wir nachstreben. Doch wenn wir nur trainieren, um Fortschritt zu erzwingen, riskieren wir, die Freude am Prozess zu verlieren.
Sounds cheesy but you know it is true :D
Sebastian